Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen (2024)

Hintergrund: Bipolare Störungen sind schwerwiegende psychiatrische Erkrankungen mit oft rezidivierendem Verlauf inklusive suizidaler Handlungen und erheblicher Komorbidität.

Methode: In der S3-Leitlinie wurde eine systematische Evidenzsuche und -bewertung mit formaler Konsensfindung verknüpft. Tausende Publikationen wurden gesichtet und 611 Publikationen eingeschlossen, darunter 145 randomisierte kontrollierte Studien (RCT).

Ergebnisse: Die korrekte Diagnosestellung muss so früh wie möglich erfolgen. Die Evidenzlage zur pharmakologischen Monotherapie ist am umfangreichsten. Kombinationstherapien werden häufig genutzt, die Evidenz ist jedoch gering. Eine adäquate Behandlung sollte unter Berücksichtigung einer gegebenenfalls nötigen Phasenprophylaxe erfolgen. Bei einer Manie sollte mit einem der empfohlenen Stimmungsstabilisierer oder Neuroleptika begonnen werden (number needed to treat [NNT] =3 bis 13 bei drei Wochen Lithium oder atypische Neuroleptika). Bei einer bipolaren Depression sollte, sofern eine bestehende stimmungsstabilisierende Behandlung nicht optimiert werden kann, initial mit Quetiapin therapiert werden (NNT =5 bis 7 bei acht Wochen), empfohlene Stimmungsstabilisierer, atypische Neuroleptika oder Antidepressiva sind möglich. Die Phasenprophylaxe soll möglichst mit Lithium erfolgen (NNT =14 bei 12 und NNT =3 bei 24 Monaten), es können auch andere empfohlene Stimmungsstabilisierer oder atypische Neuroleptika gegeben werden. Eine (zusätzliche) Psychotherapie ist vor allem zur längerfristigen Stabilisierung, Vermeidung erneuter Erkrankungsphasen und bei Suizidalität zu empfehlen. Aus den Ergebnissen internationaler Studien ergibt sich angesichts der aktuellen Versorgungssituation in Deutschland der Bedarf eines zeitnahen Zugangs zu bedürfnisorientierten, komplexen und multimodalen Versorgungsstrukturen. Essenziell sind die angemessene Information und Beteiligung der Patienten und Angehörigen.

Schlussfolgerungen: Die Versorgung bipolarer Patienten muss verbessert werden, um den Erkrankungsverlauf und somit die psychosoziale Funktionsfähigkeit positiv zu beeinflussen. Weitere qualitativ hochwertige klinische Studien mit praxisrelevanten Fragestellungen sind notwendig.

Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen (1)Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen (2)

Bipolare Störungen sind schwerwiegende psychiatrische Erkrankungen mit einer Lebenszeitprävalenz von circa 3% (1), oft rezidivierendem Verlauf und erheblicher psychiatrischer und somatischer Komorbidität. Suizidale Handlungen sind häufig und die individuellen und gesundheitsökonomischen Auswirkungen der Erkrankung von deutlicher Tragweite (Grafik 1).

Grafik 1

Vergleich der Lebenszeit-Prävalenz ausgewählter psychiatrischer und somatischer Erkrankungen bei Patienten mit bipolaren Störungen gegenüber der Allgemeinbevölkerung

Bild vergrößernAlle Bilder

Das Projekt der ersten deutschsprachigen evidenz- und konsensbasierten Leitlinien zur Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen wurde 2007 von der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) initiiert, um eine Entscheidungshilfe für Patienten, Angehörige und Therapeuten anzubieten. Hierbei wurden sie von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF, www.awmf.org) unterstützt. Die Leitlinie wurde ohne Unterstützung von pharmazeutischen Unternehmen und Medizinprodukte-Herstellern erstellt.

Im Folgenden werden der Entwicklungsprozess und wesentliche Inhalte der Leitlinie kompakt dargestellt. Für Details ist die Langfassung der Leitlinie (2) unter www.leitlinie-bipolar.de abrufbar.

Methodik

Im Leitlinienprozess waren eine Projektgruppe, eine Steuergruppe, sechs themenspezifische Arbeitsgruppen und die Konsensuskonferenz (Tabelle 1), und im Rahmen des erweiterten Reviewverfahrens eine Reviewgruppe und ein Expertenpanel aktiv. Siehe eAnhang für eine komplette Übersicht über die Teilnehmer.

Tabelle 1

Zusammensetzung der Konsensuskonferenz

Bild vergrößernAlle Bilder

Einen Überblick über den Entwicklungsprozess der Leitlinie gibt Grafik 2. Eine Übersicht über die Literaturrecherche und die Anzahl der ein- und ausgeschlossenen Publikationen zeigt Grafik 3. Mehrere Tausend Publikationen aus MEDLINE, EMBASE, PsycINFO, CINAHL und der Cochrane-Library wurden gesichtet und 611 Publikationen eingeschlossen, darunter zu den Themenfeldern Behandlung:

Grafik 2

Entwicklungsprozess der Leitlinie mit verantwortlichen Leitliniengruppen

Grafik 3

Übersicht über Literaturrecherche und Ein- und Ausschlüsse von Publikationen

Bild vergrößernAlle Bilder

  • der Manie
  • der bipolaren Depression
  • und im Rahmen der Phasenprophylaxe 145 randomisierte kontrollierte Studien (RCT).

Alle relevanten identifizierten Studien (vornehmlich randomisierte klinische Studien, Studienpopulation Patienten mit bipolaren Störungen oder separate Ergebnisse für diese Patientengruppe) wurden kritisch bewertet. Die Endpunkte Psychopathologie beziehungsweise Schwere der Symptomatik, Studienabbrüche gesamt und solche aufgrund unerwünschter Wirkungen, wesentliche unerwünschte Wirkungen und Lebensqualität wurden als besonders relevant betrachtet. Die sechs Arbeitsgruppen wurden mit Kollegen aus dem niedergelassenen und dem Klinik-Setting sowie Patienten- und Angehörigenvertretern besetzt. In zehn Konsensuskonferenzen wurden 232 Empfehlungen und Statements mit Hilfe eines nominalen Gruppenprozesses mit den Stimmen von dreizehn Fachgesellschaften, Verbänden und Organisationen sowie fünf Experten diskutiert und verabschiedet. Die Einteilung der Empfehlungsklassen, die für S3-Leitlinie F vergeben wurden, sind in Kasten1 aufgelistet.

Kasten 1

Empfehlungsklassen

Bild vergrößernAlle Bilder

Die Statements und Empfehlungen sind in der hier vorliegenden kompakten Darstellung zum Teil zusammengefasst und gekürzt, und damit abweichend vom Originalwortlaut, wiedergegeben.

Für eine detaillierte Darstellung und Diskussion der Methodik siehe (24).

Diagnostik inklusive Verlaufsdiagnostik

Die korrekte Diagnosestellung ist die Grundvoraussetzung für eine adäquate Behandlung des Patienten und die Aufrechterhaltung eines höchstmöglichen beruflichen und sozialen Funktionsvermögens. Nach ICD-10 müssen mindestens zwei voneinander abgrenzbare affektive Episoden identifizierbar sein. Daher steigt die Validität der Diagnose mit fortschreitendem Krankheitsverlauf.

Affektive Episoden können durch manische, hypomanische, depressive oder gemischte Syndrome gekennzeichnet sein (Tabelle 2).

Tabelle 2

Klinisch-diagnostische Episodenbeschreibung nach ICD-10

Bild vergrößernAlle Bilder

Neben der klassifikatorischen sollte auch dimensionale Diagnostik genutzt werden, die eine Abbildung der Symptomausprägung erlaubt. Es gibt validierte Instrumente zur Selbst- und Fremdbeurteilung der Manie und der Depression (siehe Langfassung der Leitlinie). Ein vermehrter Einsatz ist wünschenswert (Empfehlungsklasse: Statement).

Die Diagnostik bipolarer Störungen ist unter anderem dadurch erschwert, dass die Erkrankung häufig mit depressiven Phasen beginnt und hypomanische Symptome nicht als beeinträchtigend erlebt werden. Die Differenzialdiagnostik zur unipolaren Depression hat jedoch erhebliche praktische Relevanz. Folgende Risikofaktoren beziehungsweise Prädiktoren könnten einen Anhalt bieten: (Empfehlungsklasse: Statement)

  • positive Familienanamnese für bipolare Störungen
  • schwere, melancholische oder psychotische Depression im Kindes- oder Jugendalter
  • schneller Beginn oder rasche Rückbildung der Depression
  • saisonale oder atypische Krankheitsmerkmale
  • subsyndromale hypomanische Symptome im Rahmen depressiver Episoden und
  • hypo-/manische Symptomentwicklung im zeitlichen Zusammenhang mit einer Exposition gegenüber Antidepressiva oder Psychostimulanzien.

Screeninginstrumente für bipolare Störungen im Lebenszeitverlauf (wie beispielsweise das Mood Disorders Questionnaire, [5]) sind vor allem bei Risikopersonen (wie Patienten mit frühen Depressionen, Suizidversuchen, Substanzabusus oder Temperamentsauffälligkeiten) sinnvoll. Bei positivem Screening sollte zur Diagnosesicherung ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/für Nervenheilkunde hinzugezogen werden (Empfehlungsklasse: KKP).

Um eine bipolare Störung valide zu diagnostizieren, sind wichtige differenzialdiagnostische Erwägungen zu beachten (Tabelle 3).

Tabelle 3

Überblick über Differenzialdiagnosen bei bipolaren Störungen

Bild vergrößernAlle Bilder

Bei bipolaren Störungen besteht eine besonders ausgeprägte Komorbidität mit anderen psychischen Störungen. Die häufigsten sind Angst- und Zwangsstörungen, Substanzmissbrauch und -abhängigkeit, Impulskontrollstörungen, Essstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Persönlichkeitsstörungen (6).

Patienten mit bipolaren Störungen weisen eine erhöhte Morbidität und Mortalität auf. Dies ist (abgesehen von Suizid) vor allem auf kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes mellitus Typ 2 zurückzuführen (7, 8). Die epidemiologisch bedeutsamsten somatischen Störungen bipolarer Patienten sind kardiovaskuläre Erkrankungen, metabolisches Syndrom und Diabetes mellitus sowie muskuloskeletale Erkrankungen und Migräne (9). Sowohl psychische als auch somatische Komorbidität sollte zu Beginn und im Verlauf der bipolaren Erkrankung sorgfältig diagnostiziert und in der Therapie berücksichtigt werden (Empfehlungsklasse: KKP).

Die Verlaufsdiagnostik hat zum Ziel, den individuellen Verlauf der bipolaren Erkrankung insbesondere bezüglich des Erreichens definierter Behandlungsziele zu dokumentieren. Dies kann mit Hilfe bewährter Fremdbeurteilungsinstrumente oder eines vom Patienten möglichst täglich auszufüllenden Stimmungstagebuchs erfolgen (Empfehlungsklasse: KKP).

Behandlung

Das übergeordnete Behandlungsziel ist ein möglichst hohes Niveau von psychosozialer Funktion und gesundheitsbezogener Lebensqualität.

Die Akutbehandlung einer Episode der bipolaren Erkrankung muss bereits unter Berücksichtigung einer gegebenenfalls notwendigen Phasenprophylaxe gestaltet werden. Eine Übersicht über mögliche Therapiebausteine gibt Grafik 4.

Grafik 4

Mögliche Therapie bausteine bei bipolaren Störungen

Bild vergrößernAlle Bilder

Bezüglich der Pharmakotherapie wird für eine detaillierte Darstellung der Wirkmechanismen, Indikationen, Kontraindikationen, Dosierungen, Interaktionsprofile und möglichen kurz- und längerfristigen unerwünschten Wirkungen auf die Langfassung der Leitlinie verwiesen. Die zeigt in den Empfehlungen immer auch Limitationen des Einsatzes der Substanzen auf, zum Beispiel durch wesentliche unerwünschte Wirkungen, das Interaktionspotenzial oder eine fehlende Zulassung für die spezielle Indikation. Die in praxi häufig eingesetzte und auch empfohlene pharmakotherapeutische Kombinationsbehandlung fußt leider auf wenig Evidenz.

Eine phasenübergreifende, tragfähige therapeutische Beziehung trägt wesentlich zum akuten und prophylaktischen Behandlungserfolg bei (Empfehlungsklasse: Statement). Eine einfache Psychoedukation sollte das Minimum jeder ärztlichen, psychologischen oder psychosozialen Behandlung sein (Empfehlungsklasse: Statement). Unterstützende Therapieverfahren (wie Entspannungs- und Bewegungstherapie sowie Ergo-, Kunst- und Musik-/Tanztherapie) sollten den individuellen integrierten Behandlungsplan ergänzen (Empfehlungsklasse: KKP).

Behandlung der Manie

Bei der Behandlung der Manie stellt die professionelle Beziehungsgestaltung und die Schaffung therapeutisch günstiger Umweltbedingungen die Basis noch vor einer Pharmakotherapie dar. Letztere spielt häufig eine zentrale Rolle, und die Evidenzbasis ist relativ umfangreich. Kurz zusammengefasst sollte mit einer Monotherapie mit einem der empfohlenen Stimmungsstabilisierer (Lithium, Carbamazepin, Valproat), einem der empfohlenen atypischen Neuroleptika (Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon) oder Haloperidol (in Notfallsituationen und zur Kurzzeitbehandlung) begonnen werden, sofern keine Kontraindikationen vorliegen (Empfehlungsklasse: B).

Hierbei lagen die Effektstärken (NNT) für Lithium und die Atypika für drei Wochen zwischen 3 und 13 für eine zusätzliche Response gegenüber Placebo, die NNT für Remission waren vergleichbar. Auch Asenapin oder Paliperidon können eingesetzt werden (Empfehlungsklasse: 0). Zeitlich eng begrenzt können zusätzlich Benzodiazepine gegeben werden (Empfehlungsklasse: 0). Bei nicht ausreichendem Ansprechen werden Kombinationstherapien aus Stimmungsstabilisierer und atypischem Neuroleptikum empfohlen. Eine begleitende Psychotherapie fokussiert auf das Kontakt halten, bei leichteren Phasen können verhaltensnahe Maßnahmen sinnvoll sein (Empfehlungsklasse: 0).

Bei schweren Verläufen kann zusätzlich Elektrokrampftherapie (EKT) durchgeführt werden (Empfehlungsklasse: 0).

Behandlung der bipolaren Depression

Bei der Behandlung der bipolaren Depression ist es problematisch, dass in der klinischen Praxis häufig Therapiestrategien aus der umfangreichen Evidenz der unipolaren Depression übertragen werden. Bei einer leichten depressiven Episode besteht nur in Ausnahmefällen eine Indikation zu einer depressionsspezifischen Pharmakotherapie, so dass zumeist Psychoedukation, psychotherapeutische Interventionen im engeren Sinne, Anleitung zum Selbstmanagement und Selbsthilfegruppen im Vordergrund stehen (Empfehlungsklasse: KKP). Wenn bereits eine Phasenprophylaxe besteht, ist es sinnvoll, Dosis und gegebenenfalls Serumspiegel zu optimieren. Besteht keine Phasenprophylaxe, ist es sinnvoll, zu prüfen, ob eine solche indiziert ist, und wenn ja, diese bereits in der akuten depressiven Phase zu beginnen (Empfehlungsklasse: KKP). Bei einer mittelgradigen Episode ist eine depressionsspezifische pharmakotherapeutische Behandlung eine wesentliche Option (Empfehlungsklasse: Statement). Eine schwere Episode sollte pharmakotherapeutisch behandelt werden (Empfehlungsklasse: KKP).

Kurz zusammengefasst sollte mit einer Monotherapie mit Quetiapin begonnen werden, wenn keine Kontraindikationen vorliegen (Empfehlungsklasse: B). Hier lagen die NNT für acht Wochen zwischen 5 und 7 für eine zusätzliche Response gegenüber Placebo mit wieder vergleichbaren NNT für Remission. Es können auch die Stimmungsstabilisierer Carbamazepin und Lamotrigin sowie Olanzapin, aber auch selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) beziehungsweise Bupropion gegeben werden (Empfehlungsklasse: 0). Zusätzlich sollte eine Psychotherapie (familienfokusierte Therapie [FFT], kognitive Verhaltenstherapie [KVT] oder interpersonelle und soziale Rhythmustherapie [IPSRT]) und/oder eine Wachtherapie (nicht bei gemischten Episoden!) (Empfehlungsklasse: B) erfolgen, ergänzend kann auch eine Lichttherapie angeboten werden (Empfehlungsklasse: 0).

In den ersten vier Wochen der pharmakologischen Behandlung ist ein mindestens wöchentlicher Arzt-Patienten-Kontakt angeraten, um Risiken und Nebenwirkungen zu erkennen, den Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen zu beurteilen und die Zusammenarbeit zwischen Patient und Arzt zu verbessern. Danach sind Intervalle von zwei bis vier Wochen, nach drei Monaten eventuell längere Intervalle möglich (Empfehlungsklasse: KKP).

Nach drei bis vier Wochen sollte eine genaue Wirkungsprüfung erfolgen, abhängig vom Ergebnis sollte ein Wechsel oder eine Ergänzung der Behandlungsstrategie oder keine Änderung erfolgen (Empfehlungsklasse: KKP).

Vor allem in Fällen von Therapieresistenz und schweren oder gar akut lebensbedrohlichen Situationen kommt EKT in Frage.

Phasenprophylaxe

Eine ideale Phasenprophylaxe führt zu völliger Freiheit von depressiven, manischen und gemischten Episoden, allenfalls minimaler interepisodischer Symptomatik und einer unbeeinträchtigten Teilhabe am Leben. Zum Teil werden jedoch vorübergehend nur nachgeordnete Therapieziele erreicht (zum Beispiel seltenere, kürzere und/oder schwächer ausgeprägte Krankheitsepisoden oder eine verringerte interepisodische Symptomatik). Teilerfolge können aufgrund einer langen Behandlungsdauer leicht übersehen werden. Bei vollkommener Wirkungslosigkeit einer Phasenprophylaxe wird eher eine Entscheidung zum Beginn einer neuen Therapie (Umstellen) fallen, bei Teilerfolgen eher eine Kombinationsbehandlung unter Beibehaltung der bisherigen Therapie erfolgen (Empfehlungsklasse: Statement). Der Verlauf sollte systematisch dokumentiert werden. Den besten Anhaltspunkt für die Dauer, über welche eine phasenprophylaktische Strategie bis zur Beurteilung erprobt werden sollte, gibt der individuelle Erkrankungsverlauf. Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Wirksamkeit nach Ablauf der doppelten Dauer des durchschnittlichen Krankheitszyklus des Patienten beurteilt werden kann. Bei Rezidiven innerhalb der ersten sechs Monate nach Beginn einer phasenprophylaktischen Behandlung sollte in der Regel keine Veränderungen im Behandlungsregime vorgenommen werden (Empfehlungsklasse: KKP).

Zumeist ist die Pharmakotherapie unverzichtbarer Bestandteil der Phasenprophylaxe, wobei der langen klinischen Erfahrung erhebliche Defizite bezüglich der wissenschaftlichen Fundierung gegenüberstehen. Eine rezidivprophylaktische Monotherapie ist anzustreben. Kurz zusammengefasst soll eine Monotherapie mit Lithium erfolgen, wenn keine Kontraindikation vorliegt (Empfehlungsklasse: A). Hier lag die NNT für zwölf Monate bei 14 für eine zusätzliche verhinderte neue Episode gegenüber Placebo, für 24Monate bei 3. Sonst sollte Lamotrigin gegeben werden (Empfehlungsklasse: B). Es können auch die Stimmungsstabilisierer Carbamazepin, Valproat oder Lamotrigin oder die atypischen Neuroleptika Aripiprazol, Olanzapin oder Risperidon empfohlen werden (Empfehlungsklasse: 0). Zu beachten ist, dass die Indikation – außer bei Lithium – eingeschränkt ist, zum Beispiel auf Patienten, die den Wirkstoff in der Akutphase gut vertragen und ausreichend respondiert haben oder auf die Verhinderung von nur einem Pol der Erkrankung.

Bei unzureichender Response sollten zuerst Einnahmeregelmäßigkeit, Dosis und Serumspiegel (sofern etabliert) überprüft werden, eine Dosis- oder Serumspiegel-Anpassung nach oben kann (sofern möglich) erfolgen. Häufig werden bei weiterhin unzureichender Respons trotz dürftiger Erkenntnislage aus kontrollierten Studien pharmakologische Kombinationsbehandlungen genutzt. Kurz zusammengefasst können hier Kombinationen aus einem Stimmungsstabilisierer und einem atypischen Neuroleptikum oder aus zwei Stimmungsstabilisierern gegeben werden (Empfehlungsklasse: 0). Die (begleitende) Psychotherapie hat das Ziel, den gebesserten beziehungsweise remittierten Zustand zu erhalten und neue Krankheitsepisoden zu verhindern. Die Behandlung setzt in der Regel nach Abklingen einer akuten Episode ein, nach anfänglichen wöchentlichen Kontakten (in Krisen sogar mehrmals wöchentlich) wird die Therapie über mehrere Monate bis mehrere Jahre verteilt. Konkret sollte eine ausführliche und interaktive Psychoedukation angeboten werden (Empfehlungsklasse: B), es können auch KVT, FFT oder IPSRT erfolgen (Empfehlungsklasse: 0).

Die klinische Erfahrung zeigt, dass kreative und handlungsorientierte Therapieverfahren (beispielsweise Ergo-, Kunst- und Musik-/Tanztherapie) zur psychischen und sozialen Stabilisierung bipolarer Patienten beitragen. Entspannungsverfahren (beispielsweise Progressive Muskelrelaxation) tragen bei, Patienten durch Linderung spezifischer Symptome (wie zum Beispiel Anspannung oder Schlafstörungen) zu stabilisieren. Für all diese Zusatztherapieformen fehlen allerdings empirische Untersuchungen spezifisch zu bipolaren Störungen in ausreichender Qualität.

Da Suizidalität wie eingangs erwähnt bei bipolaren Störungen häufig ist (die Lebenszeitprävalenz für Suizid beträgt circa 15%), muss diese bei jedem Patientenkontakt klinisch eingeschätzt und gegebenenfalls präzise und detailliert erfragt und vor Hintergrund früherer Suizidalität und vorhandener Eigenkompetenz und sozialer Bindungen beurteilt werden (Empfehlungsklasse: KKP). Suizidale Patienten müssen eine Intensivierung des zeitlichen Engagements und der therapeutischen Bindung erhalten (Empfehlungsklasse: KKP). Bei suizidgefährdeten Patienten kann eine tragfähige therapeutische Beziehung per se suizidpräventiv wirken (Empfehlungsklasse: KKP). In der Rezidivprophylaxe bei suizidgefährdeten bipolaren Patienten soll zur Reduzierung suizidaler Handlungen (Suizidversuche und Suizide) Lithium in Betracht gezogen werden (Empfehlungsklasse: A). Antidepressiva (Empfehlungsklasse: B), Neuroleptika, Valproat und Lamotrigin sind nicht geeignet, das Zielsyndrom Suizidalität akut zu behandeln. Psychotherapie, die zunächst auf Suizidalität fokussiert, soll in Betracht gezogen werden.

Zur Behandlung spezifischer Patientengruppen und in besonderen Situationen siehe (2). Diese spezifischen Behandlungsgruppen sind:

  • Frauen im gebärfähigen Alter sowie in der Schwangerschaft und Stillzeit
  • ältere Patienten
  • Patienten mit häufigen komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen
  • Patienten mit Therapieresistenz inklusive Rapid Cycling (einer besonderen Form der Erkrankung mit mindestens vier Episoden mit Polaritätswechsel innerhalb von 12 Monaten).

Trialog, Wissensvermittlung und Selbsthilfe

Die trialogische Zusammenarbeit ist für eine offene, vertrauensvolle und erfolgreiche Kooperation zwischen Patienten, Angehörigen und Behandlern besonders wichtig (Empfehlungsklasse: Statement). In einer partizipativen Entscheidungsfindung dieser Parteien soll über die gesetzlich vorgeschriebene Aufklärungspflicht hinaus über Behandlungsstrategien und die damit verbundenen erwünschten Wirkungen und möglichen Risiken gesprochen und entschieden werden (Empfehlungsklasse: KKP).

Da eine angemessene Informationsvermittlung einen positiven Einfluss auf Kooperationsbereitschaft, Behandlungstreue (Adherence), Selbstbewusstsein und Lebensqualität hat (Empfehlungsklasse: Statement), sollten Patienten und Angehörige auf Ratgeber, Selbsthilfemanuale, Schulungsprogramme (zum Beispiel Kommunikations-Trainings, Selbstmanagement-Trainings), Literaturhinweise und aktuelle Veranstaltungen hingewiesen (Empfehlungsklasse: KKP) und zum Besuch von Selbsthilfegruppen ermutigt werden. Eine direkte Integration von Selbsthilfegruppen in das stationäre Angebot oder eine kontinuierliche Kooperation mit regionalen Gruppen oder Kontaktstellen ist sinnvoll. Dies dient auch zur Stabilisierung des Behandlungserfolgs (Empfehlungsklasse: KKP).

Für weitere Details und eine Diskussion siehe (2, 10).

Versorgung und Versorgungssystem

Die Leitlinienentwickler sehen in Verbesserungen der Versorgungsrealität ein großes Potenzial für einen günstigeren Erkrankungsverlauf und eine bessere psychosoziale Funktionsfähigkeit. Maßgebliche Gestalter der Versorgung sind die Patienten selbst, ihre Angehörigen und die ärztlichen und nichtärztlichen medizinischen und nichtmedizinischen Therapeuten beziehungsweise Betreuenden. Hausärzte sind in vielen Regionen für die Basisversorgung bipolar affektiver Patienten unverzichtbar. Im ländlichen Raum hat sich eine Kooperation zwischen Hausärzten und Fachärzten für Psychiatrie bewährt (Empfehlungsklasse: KKP).

Trotz methodischer Schwierigkeiten in der Evidenzbewertung komplexer Versorgungsstudien und der Übertragbarkeit der Ergebnisse aus anderen Versorgungssystemen ist weitgehend unstrittig, wie ein möglichst gutes Hilfesystem aussehen sollte. Aus den Ergebnissen der Studien von Simon et al. (11) und Bauer et al. (12, 13) sind angesichts der aktuellen Versorgungssituation hierfür zu fordern (Empfehlungsklasse: Statement):

Zugang und Verfügbarkeit

  • zeitnah zu qualifizierter störungsspezifischer psychiatrischer Behandlung
  • von Psychoedukation und psychotherapeutischer Behandlung
  • von verbindlichen und bei Bedarf nachgehenden Hilfen
  • von Kriseninterventionsbehandlungsplätzen (stationär, gegebenenfalls teilstationär)
  • zu rehabilitativen Angeboten mit störungsspezifischen Schwerpunkten
  • zu störungsspezifischen Selbsthilfegruppen.

Die organisatorische und finanzielle Zersplitterung des psychiatrischen Versorgungssystems in Deutschland zu überwinden, muss Ziel sein: Sektorübergreifende Versorgungs- und Finanzierungsmodelle sollten für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und somit auch für einen Teil der bipolar affektiven Patienten weiterentwickelt werden (Empfehlungsklasse: KKP) siehe (2, 14).

Ausblick

Im Fazit der Leitlinienentwicklung ist zu fordern, dass die Grundlage evidenzbasierter Medizin bei bipolaren Störungen durch qualitativ hochwertige klinische Studien mit praxisrelevanten Fragestellungen, zum Beispiel zur Behandlung der bipolaren Depression, zu Kombinationsbehandlungen und zu spezifischen Versorgungsstrategien, gestärkt wird.

Eine Nacherhebung zu Versorgungserfahrungen der Patienten und Angehörigen in Deutschland und ein Vergleich mit der Basiserhebung von 2010 (15) ist geplant, um Veränderungen nach Verbreitung der Leitlinie zu untersuchen. Die Langfassung und weiterführende Details inklusive der Diskussion von Limitationen der Leitlinie finden sich unter www.leitlinie-bipolar.de.

Danksagung
An der Entwicklung der vorliegenden Leitlinie haben sehr viele Personen mit hohem Engagement gearbeitet, die allermeisten ehrenamtlich.

Allem voran gilt unser Dank den Vorständen und Mitgliedern der DGBS und der DGPPN, die das Projekt über Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert und auch darüber hinaus in jeder Hinsicht unterstützt haben. Ohne sie wäre das Projekt nicht zustande gekommen.

Vom Projektteam in Dresden sollen vor allem Beate Weikert, Maren Schmink, Marie Henke, Björn Jabs und Steffi Pfeiffer Erwähnung und Dank erfahren. Im eAnhang sind die Mitglieder der einzelnen Leitliniengruppen aufgeführt, die sich jeweils mehrfach zu Arbeitssitzungen trafen und Themen in Kleingruppen bearbeiteten, und deren Leitern besonderer Dank gebührt.

Für die Unterstützung der AWMF gilt unser Dank Frau Prof. Ina Kopp und Frau Dr. Cathleen Muche-Borowski. Das Koordinationsteam der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression (insbesondere Herr Prof. Martin Härter, Herr Prof. Matthias Berger und Herr Dipl.-Psych. Christian Klesse) und das der S3-Leitlinie Schizophrenie (insbesondere Herr Prof. Peter Falkai) haben unser Projekt von Beginn an begleitet und ihre Expertise weitergegeben. Den an der Konsensuskonferenz beteiligten Fachgesellschaften danken wir für die anteilige Übernahme der Reisekosten.

Interessenkonflikt
Über Beziehungen zu der sie entsendenden Fachgesellschaft oder sonstigen Organisation hinaus weisen folgende Autoren auf zusätzliche Beziehungen (für die letzten fünf Jahre) hin:

Prof. Pfennig hat finanzielle Unterstützung für wissenschaftliche Projekte sowie Vortragshonorare bzw. Reisekosten für eigene wissenschaftliche Inhalte von AstraZeneca und GlaxoSmithKline erhalten. PD Bschor hat Vortragshonorare der Firmen Lilly, Bristol-Myers-Squibb, Lundbeck, Servier und AstraZeneca und Kongressreiseunterstützung der Firmen Servier und AstraZeneca erhalten.

PD Bschor erhielt einmalig Honorare von Sanofi-Aventis für eine Autorenschaft einer Publikation, bei der Bezug zum Thema besteht. Er erhielt Erstattung von Teilnahmegebühren, Reise- und Übernachtungskosten von AstraZeneca. Des Weiteren wurde er für Vorträge von AstraZeneca, Lilly, BMS, Lundbeck und Servier honoriert. Für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien bekam er einmalig Honorar von Sanofi-Aventis. PD Bschor ist Vorstandsmitglied der IGSLI.

Prof. Falkai hat Vortragshonorare beziehungsweise Reisekosten von folgenden pharmazeutischen Firmen erhalten: AstraZeneca, Lundbeck, Janssen-Cilag, BMS, Essex, GlaxoSmithKline, Lilly, Lundbeck, Pfizer. Er war Mitglied des Scientific Advisory Boards von: Astra Zeneca, Janssen-Cilag, Lilly, Lundbeck und hat finanzielle Unterstützung für ein wissenschaftliches Projekt von AstraZeneca erhalten.

Prof. Bauer hat Vortragshonorare von folgenden pharmazeutischen Firmen erhalten: AstraZeneca, Bristol-Myers-Squibb/Otsuka, Esparma, GlaxoSmithKline, Janssen-Cilag, Lilly, Lundbeck, Pfizer, Servier. Er war Mitglied der Advisory Boards von AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers-Squibb/Otsuka, GlaxoSmithKline, Janssen-Cilag, Lilly, Lundbeck/Takeda und Servier.

Manuskriptdaten
eingereicht: 26. 10. 2012, revidierte Fassung angenommen: 7.11. 2012

Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Bauer
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Technische Universität Dresden
Fetscherstraße 74
01307 Dresden
Michael.Bauer@uniklinikum-dresden.de

Zitierweise
Pfennig A, Bschor T, Falkai P, Bauer M: Clinical practice guideline: The diagnosis and treatment of bipolar disorder—recommendations from the current S3 guideline. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(6): 92–100.
DOI:10.3238/arztebl.2013.0092

@eSupplement:
www.aerzteblatt.de/13m0092

The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de

Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Twana Towne Ret

Last Updated:

Views: 5957

Rating: 4.3 / 5 (44 voted)

Reviews: 91% of readers found this page helpful

Author information

Name: Twana Towne Ret

Birthday: 1994-03-19

Address: Apt. 990 97439 Corwin Motorway, Port Eliseoburgh, NM 99144-2618

Phone: +5958753152963

Job: National Specialist

Hobby: Kayaking, Photography, Skydiving, Embroidery, Leather crafting, Orienteering, Cooking

Introduction: My name is Twana Towne Ret, I am a famous, talented, joyous, perfect, powerful, inquisitive, lovely person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.